Im Gespräch mit Tamás Jamriskó, Chefredakteur des kleinen Community-Radios EPER (Első Pesti Egyetemi Rádió) – dem ersten Universitätsradio der Stadt Pest in Ungarn – ist die Frage herausfordernd, aber einfach: Als Kind der 90er Jahre hat er erkannt, dass das ‚Community-Radio‘, das die ältere Generation der 80er und 90er Jahre verehrt hat und das sich auf die ‚Gemeinschaft‘ der Produzenten, das Miteinander, die Solidarität und die gemeinsame soziale Aktionsagenda konzentriert hat, in der Tat unter dem Druck der Pressefreiheit in Ungarn zerbröckelt.“ Mit einem staatlichen Radio, das sich auf ‚Ungarn, Familie und Religion‘ konzentriert – und mit überhaupt keinen öffentlich-rechtlichen Medien, einem minimalen kommerziellen Mediensektor und einem Community- und alternativen Mediensektor, der, ähm… individualisiert ist, gibt es in Ungarn nicht viel im Sinne einer ’normalen‘ europäischen Medienlandschaft mit den drei Ebenen des öffentlich-rechtlichen, kommerziellen und Community-/Alternativ-Rundfunks“, sagt Tamás. „In Osteuropa verschwinden langsam viele der Formate, die wir aus dem Westen übernommen haben!“
Ein 200-seitiger Antrag für eine Lizenz mit 1 km Radius erforderlich
EPER Radio musste – mit bezahlter Unterstützung – einen 200-seitigen Antrag vorbereiten, um eine Lizenz zu erhalten. Es dauerte 4 Wochen (und Tamás fing wieder an zu rauchen!), aber sie bekamen ihre Lizenz und damit rund 11.000 € pro Jahr an staatlicher Unterstützung. Mit diesem Betrag werden die Redakteur:innen des Senders, die Koordinator:innen und einige freiberufliche Mitarbeiter:innen bezahlt. Der Rest der Arbeit im EPER-Radio wird ehrenamtlich geleistet. Abgesehen von dem 200-seitigen komplexen Antrag betont Tamás, dass EPER Radio von den Behörden nicht als Bedrohung angesehen wird – wie es bei Civil Radio der Fall war – und dass dies sicherlich auch ein Grund dafür ist, dass sie eine Lizenz erhalten haben. Er findet es ziemlich absurd, all das durchzumachen und dann nur eine Lizenz für die Ausstrahlung in einem Radius von 1 km zu bekommen. Aber sie sind ‚legal‘ und füllen die Frequenz 24/7. Aber der eigentliche Schwerpunkt liegt auf ihrer Internetplattform, wo sie nicht vom Staat kontrolliert werden. Hier haben sie die Freiheit, die sie wollen. Freiheit der Stimme, der Meinungsäußerung und der Verbreitung ihrer inhaltsreichen Programme.
Die National Community Radio Association wird 30 Jahre alt, aber die Mitgliederzahlen gehen zurück
Tamás hat selbst einige Jahre beim Bürgerradio in Budapest gearbeitet und ist mit Tilós Radio, Club Radio und anderen der mehr als 20 starken Radios der Meinungsfreiheit der 90er Jahre befreundet. Aber die Dinge ändern sich. Die Pandemie hat das Tempo erhöht, aber auch ohne sie gibt es in Ungarn nur noch 5-6 Community-Radios, als der „Ungarische Verband Freier Community-Radios“ in diesem Frühjahr sein 30-jähriges Bestehen feiern will.
Radio EPER verlässt die kollektive Agenda des sozialen Wandels und konzentriert sich auf die Beziehung zwischen Produzent und Hörer
Tamás erklärt, dass sich das EPER-Radio weniger auf eine gemeinsame, von einem Kollektiv getragene Agenda für soziale Entwicklung und Veränderung konzentriert, als auf die enge Beziehung zwischen dem Produzent:innen und deren Hörer:innen. Das Community-Radio wird eher zu einer Plattform für individuelle Macher:innen, die ihre Beziehung zu jeder ihrer Gruppen von spezifischen Zuhörer:innen entwickeln. EPER-Radio hat eine passive Gruppe von etwa 90 bis 100 Produzent:innen, von denen 15-20 aktiv sind. Sie senden rund um die Uhr sowohl mit einer Lizenz, die ihnen nur einen Radius von 1 km erlaubt, als auch online, wo sie viel mehr Hörer:innen mit speziellen Interessen erreichen. So gibt es zum Beispiel einen Podcast über Archäologie, bei dem die Hörerschaft aus Männern im Alter von 30 bis 50 Jahren besteht, und einen Podcast über neue Filme, bei dem die Hörerschaft hauptsächlich aus Frauen zwischen 18 und 24 Jahren besteht.
Tamás sieht keine Zukunft für das Community-Radio alter Schule in Ungarn, er glaubt vielmehr, dass Mikro-Communities die Antwort sind!
Ausgehend von Tamás‘ Erfahrungen mit dem Budapester Bürgerradio hat er versucht, um den Sender herum eine Art „Kollektiv“ zu bilden. Er lud alle Redakteur:innen zu einer Redaktionssitzung ein, aber ohne Erfolg. Das Interesse der Radiomachenden ist sehr viel individueller: Sie haben ihre Hörer:innengruppe im Blick und nicht den Sender, der nur die Plattform ist, von der aus sie senden. Während die Redaktionssitzung und Tamás‘ Versuch, einen kollektiven Geist im Sender zu schaffen, nicht funktionierten, war seine Einladung zu einer Gartenparty bei ihm zu Hause ein Erfolg – viele der Produzent:innen kamen und hatten eine schöne Zeit.
Corona Chronicle“ und „Get The Trolls Out“ brachten den Sender zusammen
Während der Pandemie produzierte der Sender erfolgreich eine zweiwöchentliche „Corona-Chronik“, bei der 15-20 Autor:innen alle zwei bis drei Tage Geschichten an den Sender schickten: kleine, auf Menschen bezogene Geschichten, die zum Teil wichtige Informationen über Corona enthielten, zum Teil darüber berichteten, wie andere die Pandemie bewältigten – oder auch nicht. Dies führte zu einer verstärkten Zusammenarbeit, die jetzt, wo sich die Lage langsam normalisiert, nicht mehr gegeben ist. Radio EPER arbeitet außerdem mit anderen Bürgerradios/-medien in Europa zusammen. Unter anderem ist das Radio eines der CMFE-Partnerradios im Projekt “Get the Trolls Out!”, wo sie sich mit Fragen der Desinformation, Hassrede und antireligiöser Diskriminierung auseinandersetzen. Die erste EPER-Produktion finden Sie hier. https://getthetrollsout.org/cmfe-articles/on-framing-and-not-caring-about-elephants-a-broadcast-and-podcast-by-eper-radio?utm_source=newsletter&utm_medium=email&utm_campaign=radio_and_trust_but_what_if_you_dont_trust_your_local_radio&utm_term=2022-06-29
Während das 20. Jahrhundert das Jahrhundert des Radios war, ist das 21. Jahrhundert das Zeitalter des Podcasts, so Tamás abschließend
Mit Blick auf die Zukunft ist Tamás überzeugt, dass die frühere „Einheit“ des Community-Radios nicht wiederkehren wird. Seine realistische Vision ist, dass die Zukunft des Community-Radios – zumindest in Ungarn und den benachbarten ehemaligen osteuropäischen Ländern – in gemeinsamen Plattformen besteht, die von Mikrogemeinschaften gebildet werden. Diese „Gemeinschaften“ werden ausschließlich aus den Machern und ihren Zuhörern bestehen: sprach- und inhaltsbasiert. Das 21. Jahrhundert ist die Podcast-Ära, sagt Tamás.
Der Text wurde zuerst im CMFE-Newsletter (https://preview.mailerlite.com/i9b9t7y2x7/1893387367314626043/p0s9/) von Februar 2022. Geschrieben von Birgitte Jallov – übersetzt von Dominic Köstler.